Kontaktabbruch erwachsener Kinder zu den eigenen Eltern. Ein sehr schwieriges Thema.
Es durchzuziehen ist für Menschen, die in Ihrer Kindheit/Jugend von den eigenen Eltern sexuell missbraucht, geschlagen, misshandelt und vernachlässigt wurden und dafür von den Eltern auch noch verantwortlich gemacht wurden, besonders schwer. Sie spüren keine Grenzen, wissen zwar vielleicht nach Jahren der therapeutischen Begleitung, was ihnen angetan wurde und auch, wer dafür die alleinige Schuld trägt. Und doch sind die Alltagsstrukturen in der Kindheit so durchwoben gewesen von Schuldumkehr auf das Kind, von Verwirrung und Machtmissbrauch, dass die Betroffenen auch als Erwachsene nicht richtig spüren können, dass der Kontaktabbruch der einzige Weg ist, um wirklich die Traumatisierung verarbeiten zu können.
Eine meiner schwer traumatisierten Klientinnen wurde nach jahrzehntelangem Kontaktabbruch zu ihren Eltern von ihrer Mutter angeschrieben. Obwohl diese Frau inzwischen sehr stabil und gefestigt ist, hat sie dieser Brief geradewegs in ihre Kindheit zurück katapultiert... sie hatte wieder Alpträume, Flashbacks und Schuldgefühle, bis es ihr gelang, in einem Brief zu antworten und so die Schrecken der Vergangenheit wieder dorthin zu verbannen, wo sie hingehören: in die Vergangenheit! Anschließend war eine Abgrenzung und ein klares Setzen von Grenzen wieder möglich.
*** Triggerwarnung ***
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Hallo Mutter,
Ich habe lange überlegt, ob ich antworten soll... denn es fehlen mir die Worte.
Ich habe mir mein Leben lang Eltern gewünscht, die mich respektieren, mich lieben, mich stärken und stolz auf mich sind. Diese Eltern hatte ich leider nie und werde sie nie haben. Ich habe gar keine Eltern. Und darüber konnte ich noch nicht einmal trauern. Ich habe biologische Eltern. Nicht mehr und nicht weniger. Ich habe gute Gründe, solange ich lebe, NIE wieder Kontakt zu Euch haben zu wollen. Mein Leben ist ein harter Überlebenskampf. Doch ich habe eine wunderbare Familie, die mich stärkt und mir immer wieder Kraft gibt, weiterzumachen. Niemals aufzugeben. Dadurch habe ich viel erreicht. Ich bin seit 15 Jahren in Psychotherapie und werde es wohl mein Leben lang bleiben. Allerdings habe ich es geschafft, aus meinen eigenen Lebenserfahrungen in meiner Kindheit und Jugend etwas positives zu machen und nicht das unreflektiert zu wiederholen, was ich selbst erleben und erfahren musste. Ich habe mich immer für meine Kinder eingesetzt und niemals gegen sie. Ich liebe meine Kinder über alles und werde immer stärkend hinter ihnen stehen ohne sie beschimpfen, beleidigen und aufs Äußerste demütigen zu müssen. Ich habe eine starke, harmonische und liebevolle Beziehung zu meinem Mann, ohne Angst, Gewalt und Verrat. Ich habe nur noch Menschen in meinem Leben, die mir gut tun und die ein ehrliches Interesse an mir und meinem Leben haben. Und, ich habe es geschafft, trotz einer Vergangenheit, die geprägt war von Angst, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, sexueller und körperlicher Gewalt, von Missbrauch, Sadismus, Folter und psychischer Gewalt, zu einer Erwachsenen Frau zu werden, die kraftvoll im Leben steht. Ich entscheide heute selbst über mein Leben. Und das ist gut so. Und alle Menschen, die mir schaden, verbanne ich aus meinem Leben. Und ja, ich wünsche mir noch immer liebevolle Eltern, die mich gerne haben und mir aus vollem Herzen sagen, ich wäre das Beste, was Ihnen jemals passiert ist. Und es macht mich unglaublich traurig, diese Eltern niemals gehabt zu haben. Ich werde mein ganzes Leben lang mit den Verletzungen, mit meiner tiefen Verzweiflung und mit psychischen und körperlichen Schmerzen Leben müssen. Und dennoch werde ich niemals aufgeben, das Beste daraus zu machen. Für mich gibt es keinen Weg zurück... Dazu bräuchte es ehrliches Aufarbeiten, Verantwortung übernehmen und Schuld eingestehen von Eurer Seite. Und wenn ich eines sicher weiß, dann ist es, dass Ihr dazu nie in der Lage wart und es auch nie sein werdet. Es gibt Dinge, für die es irgendwann zu spät ist. Sogar, wenn ihr dazu in der Lage wärt, wäre ich mir nicht mehr sicher, ob ich Euch noch verzeihen könnte oder wollte. Ich habe Euch nie vermisst und tue es bis heute nicht. Was ich aber immer vermissen werde, sind eine Mama und einen Papa, die ihre Tochter von ganzem Herzen lieben. Das ist alles, was ich dazu noch sagen kann und werde. Ich will und werde auch in Zukunft nicht mit Euch im Kontakt sein.
Deine Tochter
Vielen Dank an Frau W. dafür, dass ich diese offenen und bewegenden, schmerzhaften Worte hier teilen darf. Es zeigt mir immer wieder, welche Stärke Menschen entwickeln können und gleichzeitig, wie fragil das Ganze Leben mit komplexer Traumatisierung sein kann. Ein Tabuthema, über das wir viel offener sprechen sollten.
Karoline Nikolaus
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Carine (Dienstag, 08 Oktober 2024 23:24)
Der Brief ist so toll, macht mir viel Hoffnung. Danke dafür